Was bedeutet es für die Entwicklung eines jungen Menschen, wenn es gezwungen ist, im Untergrund zu leben? Christian Petzolds Film erzählt die Fortsetzung der Geschichte von "Die stille nach dem Schuss" mit einer Annahme, welche die persönliche Geschichte von Baader, Meinhof und Ensslin nicht zulässt: was, wenn sie sich nicht getötet hätten? Was, wenn sie niemals geschnappt worden wären, und im Untergrund leben müssten, auf der ständigen Flucht vor der Polizei, noch dazu in einem Europa, welches mehr und mehr zu einem einzigen System wird, in dem untertauchen gar nicht mehr möglich ist? Dass die Eltern der Hauptfigur Jeanne (gespielt von Julia Hummer) ehemalige Angehörige der RAF sind, wird niemals ausdrücklich gesagt, aber es kann vermutet werden, bzw. ist der Film bis jetzt immer aus dieser Perspektive wahrgenommen worden. Jeanne ist 15 Jahre alt, hat noch niemals eine normale Schule besucht oder Freunde gehabt, da dies sowohl auf Grund ihrer Lebenssituation als auch wegen des grundsätzlichen Misstrauens ihrer Eltern unmöglich ist. Die Geschichte beginnt in Portugal am Strand, wo Jeanne Heinrich (Bilge Bingul) kennen lernt. Er erzählt ihr – wie sich später herausstellt – erfundene Geschichten über sein eigenes Leben, sie bleibt still. Dieses Thema taucht auch in "Gespenster" auf. Menschen brauchen Geschichten, um zu wissen, wer sie sind, sie müssen sie immer wieder erzählen, sich selbst neu erfinden. Die innere Sicherheit des Titels hat natürlich zwei Bedeutungen, eine persönliche und eine politische, aber im Falle Jeannes ist beides nicht vorhanden. Die innere Sicherheit des Staates ist es, die die Flucht der Eltern überhaupt erfordert, sie definiert den linken Terrorismus als nicht-akzeptable Bedrohung, die selbst nach 15 Jahren noch sanktioniert werden muss, gleichzeitig ist die innere Sicherheit der Familie durch Jeannes Ausbruchsversuch gefährdet (Und letztendlich ist es genau dieser Ausbruch, der dazu führt, dass Jeannes Eltern sterben), und Jeannes eigene innere Sicherheit ist ultimativ gefährdet, da ihre Autonomie durch das Verhalten ihrer Eltern extrem eingeschränkt ist. Dass Jeanne eine Anomalie ist, ist ihr selbst auch bewusst – sie war niemals geplant, und passt eigentlich überhaupt nicht in den Lebensentwurf ihrer Eltern, und in gewissem Sinne sind die beiden Altrevolutionäre Clara (Barbara Auer) und Hans (Richy Müller) vollkommen mit der Situation überfordert, obwohl sie versuchen, ihr im Rahmen ein normales Leben zu ermöglichen. Jeanne scheint überhaupt keine Wahl zu haben, als durch ihre diversen Ausbruchsversuche ihre Familie zu gefährden – ihr Drang zur Freiheit, zur individuellen Verwirklichung, muss in gewissem Sinne zur Vernichtung der Eltern führen. Sie stiehlt Kleidung, um weniger aufzufallen, inzwischen stellen die Eltern, die nun auf die Hilfe ihrer alten Kumpanen angewiesen sind, fest, dass diese sich eine Existenz aufgebaut haben, die den alten Idealen natürlich grundsätzlich widerspricht: einer hat gar eine Villa in einem Waldstück, geschmückt mit moderner Kunst. Hier trifft Jeanne auf ihr Gegenstück, auf "das, was sie sein könnte, aber nicht ist": die Tochter des Ex-Terroristen (Katharina Schüttler), der nun Anwalt ist, teilt kurze Zeit lang ihre Welt mit Jeanne, sie sieht deren Kleidung (ein Diego-Maradonna T-Shirt, während sie selbst einen peinlich-kindlichen Bienenpullover trägt), hört deren Musik, aber letztlich muss sie diese Alternativwelt verlassen. Es ist dieses Leben, welches Jeanne zu kopieren versucht – sie versucht ein normales Leben genau innerhalb des Systems zu führen, welche ihre Eltern bekämpfen, während diese gerade realisieren, dass es überhaupt keinen sicheren Ort außerhalb des Systems mehr gibt, auch wenn sie von einem Leben in Brasilien oder auf Bora-Bora träumen. Diese Orte bleiben Utopien.
Ein zweits Mal lässt sie sich in ein anderes Leben mitnehmen (in diesen Szenen ähnelt sie Nina aus "Gespenster") – ein Mädchen nimmt sie in einer verstörende Filmvorführung über Auschwitz in einem Hörsaal mit, kurze Zeit lang erweckt sie den Eindruck, eine der Studentinnen zu sein, doch schließlich muss sie auch hier fliehen. Heinrich bleibt für einige Zeit lang der einzige funktionale Bezugspunkt, doch auch aus seinem Zimmer in dem Heim, in dem er wohnt, flieht sie, und sie erzählt ihm nichts über ihr Leben. Die Eltern realisieren erst jetzt, dass sie ihr Kind nicht weiter mitnehmen können, vor allem, da sie nun einen Banküberfall planen, der ihnen endgültig das Kapital für eine Flucht geben soll. In einer der fürchterlichsten Szenen des Filmes bringen sie Jeanne weg, was diese als Drohung wahrnimmt – "du kannst nicht leben und im Untergrund sein" – doch schließlich verspricht Jeanne, bei ihren Eltern zu bleiben, sie verspricht, dass sie Heinrich nicht liebt.
Während sie in dem Auto auf ihre Eltern wartet, die die Bank ausrauben, findet Heinrich sie, und die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden, ist, ihn zu beschimpfen – sie nennt ihn dumm, einfach, einfältig – in dieser Szene wird Heinrich zu dem geschlagenen Tier, welches Nina in "Gespenster" verkörpert (der Film hat keinen Charakter, der Toni entspricht). Der Banküberfall ist schief gelaufen, der Vater angeschossen, die Mutter hat einen Menschen getötet. Als Jeanne bei Heinrich Schutz sucht, verlangt er, dass sie ihm alles erzählt, was sie auch tut, doch nun missbraucht er ihr Vertrauen, da er mit der Situation nicht umgehen kann, und ruft die Polizei. Auf der Flucht, in einem letzten Moment des Glückes, wird das Auto der Familie von dunklen Regierungswagen abgedrängt, es kommt zu einem Unfall, den wahrscheinlich nur Jeanne überlebt. Am Ende ist sie so allein, wie sie sich den ganzen Film über gefühlt hat.
Wie auch bei "Gespenster" hat Christian Petzold mit Harun Farocki am Drehbuch gearbeitet. Der 2001 erschienene Film weist schon viele Merkmale von "Gespenster" auf, auch wenn die einmalige Kameraführung des neuesten Filmes sich grundsätzlich von der in "Die innere Sicherheit" unterscheidet. Das für den Zusehers nachvollziehbarste Bindeglied ist die Hauptdarstellerin Julia Hummer, die hier abermals die Einsamkeit personifiziert. Kaum eine Szene, in der sie nicht vorkommt, sie trägt den Film. Als graphisch nicht geschulte Zusehern erinnert mich Christian Petzolds Motivwahl und Farbgebung immer an die Ästhetik der deutschen Zeitschrift Spex – sie entspricht moderner, realistischer Fotografie, die ausgerechnet den trüben, grauen Farben eine besondere Stimmung abgewinnt, welche genau in diesen Film passt. Lissabon sieht so nicht viel anders aus als Deutschland, über allem schwebt sowieso die, in diesem Film bedrohliche, europäische Flagge. Die Utopie der Eltern ist längst nichts mehr als ein Traum, und die revolutionäre Romantik, die zum Beispiel "Baader" idealisiert, gehört hier der Vergangenheit an, wenn sie überhaupt jemals existiert hat. Das ist ein Film, der die Frage nach der Verantwortung stellt. Die Hauptfiguren sind nach unserem Geschichtsverständnis absolut anachronistisch, Überbleibsel einer Zeit, die wir als vergangen ansehen, auch wenn sie in manchen Kreisen immer noch idealisiert wird. In gewissem Sinne ist jeder einzelne Charakter des Filmes ein Gestrandeter ohne soziale Definition.
2000, Regie: Christian Petzold, mit Julia Hummer, Barbara Auer, Richy Müller, Bilge Bingul.
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