Komm sag es allen: Wir sind frei
Es gibt kein Müssen und kein Sollen
wenn wir nicht wollen
Die Zeit der Heuchler ist vorbei
und ihre Tyrannei
Denn wir sind frei
Blumfeld: Wir sind frei
"Kapitulation". Ein Album, an dem man sich die Finger wund schreiben könnte und trotzdem würde in jedem einzelnen Satz, den Dirk von Lowtzow hier singt, mehr enthalten, als man in Worte bannen könnte.
"Mein Ruin ist mein Bereich / Denn ich bin nicht einer von euch / Mein Ruin ist was mir bleibt / Wenn alles andere sich zerstäubt / Mein Ruin das ist mein Ziel / Die Lieblingsrolle die ich spiel / Mein Ruin ist mein Triumph / Empfindlichkeit und Unvernunft /Eine Befreiung / Eine Pracht /Sanfter als die tiefste Nacht". Musikalisch wird da von anfang an vorwärts getrieben, während die Texte sich langsam und sicher noch weiter von den prägnanten Sätzen entfernen, die man einfach auf eine Hauswand schreiben könnte - wobei das eigntlich nicht stimmt. Die Natur hat zwar Einzug gehalten, aber sie ist nicht das Biedermeier-Zimmer, ganz im Gegenteil, denn diese Kapitulation ist keine wirkliche Aufgabe, keine Resignation, sie hört sich eher wie eine Widerstands-Strategie an, die, wenn man die alten Texte von Tocotronic hört, immer schon ein wenig da war. Dieses "ich bin drei Schritte vom Abgrund entfernt", vorgetragen mit dem ganzen wütenden, aufgebrachten Weltschmerz, der in Wirklichkeit gar nicht für eine Generation, sondern hauptsächlich für sich selbst sprechen will, war immer schon der Ansatzpunkt für eine Haltung gegen das Leistungsprinzip. Jetzt, ungefähr 12 Jahre später, ist das alles noch ein bisschen schlimmer geworden.
Jetzt also: "Fuck it all", beziehungsweise, "Sag alles ab", aber dazwischen diese vielzitierten, poetischen Texte, die sich tatsächlich wie Gedichte lesen, während die Musik sie länger als gewohnt begleitet. Im Endeffekt entsteht ein regelrechter Rausch durch diese Kombination. "Harmonie ist eine Strategie" und "Das Nutzlose wird siegen". Tocotronic zu interpretieren bedeutet immer eine Anmaßung, schließlich macht man sie dadurch für sich selbst nutzbar, was genau das ist, was hier vermieden werden will. Die Ideologie, und nichts anderes ist es, die inzwischen alle Lebensbereiche umfasst und alle echten Gefühle schon im Keim erstickt, muss irgendwie bekämpft werden. Nicht alles muss verwertbar sein, und nicht jede menschliche Beziehung Teil eines Netzwerkes, das ausgenützt werden kann. Doch mit welcher Strategie kommt man gegen das Prinzip an, das genau dort greift, wo Kritik normalerweise beginnt, dort, wo sie sich organisiert (denn auch die Organisation von kritischen Netzwerken gehorcht den Regeln des Systems selbst, weswegen der Kapitalismus besonders erfolgreich ist, weil er seine eigene Kritik absorbiert)?
"Wir sind viele / uns bindet nichts an nichts / wir sind viele / unnütz für dich und mich / wir sind viele / Unkraut das nicht vergeht." Kapitulation ist eine große Geste und eine Form von Widerstand, jenseits des "Ich stelle mich auf eine Bühne und singe für den Weltfrieden". Thomas Gross konstatiert in einem Artikel in der "Zeit": "Erst jenseits der Zwänge des Notwendigen beginnt das Reich der Freiheit. Die Zauberformel, die hier den Zutritt verschafft, lautet »Kapitulation«. Ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte." (link). Deswegen das Blumfeld-Zitat im Titel, denn trotz der Welten, die zwischen diesen beiden Bands liegen, erschien mir "Jenseits von Jedem", das vorletzte Album der inzwischen aufgelösten Band, das nächstliegende. "Wo überall schnöder Pragmatismus regiert, wird Passivität zur letzten Widerstandsgeste." Dabei will "Kapitulation" irgendwie beides, jeden ganz persönlich treffen (besonders gut: "Ich bin wehrlos ohne dich /Ich sehe dem Abgrund ins Gesicht / Der Abgrund starrt zurück und ich / Bin wehrlos ohne dich"), aber auch utopisch eine große Geste setzen, die vielleicht doch etwas in Bewegung setzt.
Der Kern des Albums ist "Sag alles ab", das wird wieder von den ganz großen Menschenmengen gesungen werden wie letztens "Aber hier Leben nein danke".
Sag alles ab"Kapitulation" ist ein Album gegen Macht, Dominanz, Erfolg. Es ist ein Manifest und eine Strategie.
Geh einfach weg
Halt die Maschine an und
Frag nicht nach dem Zweck
Spreng deine Ketten in die Luft
Und lass das Scheusal doch zuhause
Die Prüfung findet heute nicht statt
Die Karriere macht mal Pause
nach dem Zweck
Reiß deine Fesseln doch entzwei
Und lass das Dreckschwein mal zuhause
Die Zeit der Schmerzen ist vorbei
Die Karriere macht mal Pause
Du musst nie wieder
In die Schule gehen
Du wirst das Licht
Deines Lebens vor Dir sehen
Du musst dich doch nicht
Bemühen bemühen
Die Bäume werden doch
Auch von selber grün
Alles explodiert
Kein Wille
Triumphiert
1 comment:
Stimme in allen Deutungen und Hinweisen zu; und die Nähe zu Blumfelds "Jenseits von Jedem" ist wirklich zutreffend und klasse beobachtet. Danke für den Hinweis. Meine Einschätzungen finden sich hier
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