Thursday 18 September 2008

"Ich habe einen Traum" - Warum Regierungen idealistisch und Parlamente realistisch arbeiten

"Dann möchte ich in einem Land leben, das ich sehr liebe, das geeint ist, das zusammenhält und das das Gemeinsame über das Trennende stellt. Und ich will das Land nicht teilen, ich will es nicht teilen in die die eine Religion haben und die die eine andere Religion haben, ich will es nicht in Inländer und Ausländer teilen."
Der Weg zu dieser staatsmännischen Faymannschen Ansprache war ein langer. Im aktuellen Datum mit dem schönen Titelschlagwort "Nationaler Sozialismus" gibt eine Reportage von der SPÖ-Basis darüber Auskunft, dass die Ablehnung der FPÖ als Koalitionspartner offensichtlich ein Elitenphänomen ist. Aber wie weit der Konsens innerhalb der Partei auch existiert oder eben nicht: Die Aussage, mit Strache keine Koalition eingehen zu wollen, ist bindend, so grundsätzlich und so bereitwillig, mit moralischen Imperativen zu argumentieren, haben bisher nur die Grünen Koalitionen ablehnen können, und die stehen am Abend des 28. sicherlich nicht mit der Aufgabe da, eine lebensfähige Regierung auf die Beine zu stellen, auch wenn besonders visionäre Berichterstatter von einem staatstragenden Van der Bellen träumen (schließlich ist der Bundespräsident nicht verpflichtet, der stimmstärksten Partei diese Aufgabe zu übertragen, es ist nur üblich so).

Es liegt im Interesse beider Parteichefs, die Unterscheidung zwischen parlamentarischer Zusammenarbeit und möglicher Zusammenarbeit innerhalb einer Regierung zu treffen. Erstens ist es für das politische System in seiner jetztigen Form absolut notwendig, dass sich Mehrheiten über die Konventionen üblicher Sympathien hinweg bilden, und das war wahrscheinlich auch so so üblich, bevor es als große Revolution des Parlamentarismus beschrieben wurde (spannend ist nur, dass die ÖVP konsequenterweise nicht nur im Wahlkampf, sondern auch bei den neuen Arbeitsweisen im Parlament auf der Strecke bleibt...Anschluss verpasst?).
Was die Koalitionsmöglichkeiten der SPÖ betrifft: Wenn sich in den nächsten Wochen nicht entscheidendes ändert, wird Faymann diese Wahl gewinnen. Und jemand muss ihm schon geflüstert haben, dass die ÖVP in diesem Fall einen Führungswechsel vornimmt, denn die Sicherheit, mit der er schon von einer notwendigen "breiten Basis" (was ja nichts anderes als "Große Koalition" heißt) spricht, grenzt schon fast an Verschreien. Andererseits hat es mich schon bei den letzten Wahlen gewundert, dass es keinen breiten Widerstand innerhalb der ÖVP gegen die etablierte Führungselite gab: jetzt ist er eben da, der Widerstand. Frage bleibt, was aus Schüssel und Molterer werden wird.

Aber zurück zur Diskussion: Begonnen wurde sie mit den "Turbulenzen an den internationalen Kapitalmärkten". Die logische Überleitung war die zur sogenannten "dritten Säule" der Pensionsvorsorge, also die Private, die letzten Jahre über so breit beworben und doch am meisten bedroht. Faymann sieht eine Lösung durch Stärkung der Kaufkraft, Investitionen in Forschung und Entwicklung und in die Bildung. Strache sieht spannenderweise den Staat in der Verantwortung die Private Pensionsvorsorge abzusichern. Ich bin mir da nicht so sicher. Irgendwie ist das doch die Geschichte mit Privater Vorsorge: dadurch, dass man nicht mehr die Verantwortung für die anderen trägt, muss man doch zumindest die eigene Verantwortung tragen, und die beinhaltet in diesem Fall eben alle Risiken des internationalen Kapitalmarktes? Es ist doch feige, zu sagen, der Markt könnte diesen Bereich regeln und dann, sobald alles zusammenbricht, den Staat in die Pflicht zu nehmen. Entweder / oder. Aber die armen Menschen, denen man das eingeredet hat. Die in 20 Jahren vielleicht doch nichts davon haben werden. Schwieriges Thema.

Der Pensionistenpreisindex ist übrigens ein speziell für Pensionisten zusammengestellter Warenkorb, der einige der sonst berücksichtigten Ausgaben (Handys, wahrscheinlich auch Internet?) nicht enthält. Aber ich finde es sowieso merkwürdig, wenn bei den Statistiken immer davon geredet wird, dass niedriger Preise für Computer gegen den Preisanstieg bei Lebensmitteln aufgerechnet werden, das hat nichts mit Pensionist oder Nicht-Pensionist zu tun.

Die ÖVP schürt in den Medien die "Angst der breiten Bevölkerung" vor einer Rot-Blauen-Koalition (aber 1999 war eine Schwarz-Blaue-Koalition OK? Wie jetzt?), Strache schürt die Angst vor einer Großen Koalition mit Josef Pröll. Umfragen haben ergeben, dass die Österreicher mit allen möglichen Koalitionen unzufrieden sind, was eine Herausforderung wäre, das System irgendwie zu reformieren, bloß wie, und bei der Erneuerungsgeschwindigkeit österreichischer Strukturen ist das sowieso eine ganz eigene Geschichte. "Ich bin so lange unzufrieden, wie sich eine Koalition aus Rot-Grün-Gelb nicht ausgeht".

Die oben zitierte Ansprache war übrigens Reaktion auf die überraschend direkte Frage von Moderatorin Thurnher, was eigentlich an der FPÖ unter Strache so grauslich sei. Bis zu diesem Punkt war die Diskussion ruhig, fast schon langweilig, die beiden Kandidaten unterbrachen sich nicht gegenseitig (wenn man sich an das Massaker Haider-Faymann letzte Woche erinnert, wunderbar zum Mitschreiben). Das, was Van der Bellen seit Wochen so auf den Punkt zu bringen versucht, den Vorwurf an die Großparteien, den Erfolg der FPÖ zu ermöglichen, indem keine Strategien gegen diesen Populismus gefunden werden, bzw. dieser Populismus auch noch ohne große Erfolge kopiert wird. "Jedes Mal, wenn Sie falsche Fakten und Zahlen nennen, müssten wir daneben stehen und sagen, wie es wirklich ist". Ich weiß nicht, ob es glaubwürdig wirkt, wenn die SPÖ daneben steht und sagt, wie es wirklich ist, aber irgendwer sollte das tun, und idealerweise mit einer weiteren Reichweite als der Standard.
Strache hätte sich das vielleicht erspart, wenn er Faymann vorher nicht auf die Füße getreten wäre: Wiener Wohnbau, Gemeindebauten, das alte Thema. Laut Faymann haben Ausländer (im Sinne von "ohne österreichische Staatsbürgerschaft", nicht dieser merkwürdige Blut-und-Boden-Ausländer-Begriff wo "neue" Staatsbürger noch als Ausländer gerechnet werden) einen 7%-Anteil an den Gemeindebauten. Von 10000 Wohnungen gehen etwa 700 an Ausländer. Gerade weil die Öffnung der Gemeindebauten erst vor kurzem erfolgt ist, entstanden in Wien die Probleme in den Schulen: Weil die billigen Wohnungen konzentriert in ein paar Bezirken sind (viel zitiert: Ottakring rund um den Brunnenmarkt) und die ausländische, nicht deutsch-sprachige Wohnbevölkerung deswegen nicht regelmäßig über die ganze Stadt, sondern konzentriert in bestimmten Bezirksteilen wohnt. Faymann wirft Strache vor, durch falsche Statistiken Ängste zu schüren, ohne Lösungen anbieten zu können. Strache meint, die SPÖ hätte mit dem Versuch, das Wahlrecht auf Ausländer auszudehnen, einen "Anschlag auf das Staatsbürgerrecht" unternommen, dürfe auf keinen Fall türkische Anzeigen schalten und würde das "Menschenrecht auf Heimat" gefährden.
Heimat ist dann, wenn die Leute um dich herum die gleiche Kleidung tragen, die gleiche Sprache sprechen und die gleiche Religion haben? Dann muss ich hier aber schleunigst einiges ändern. Vor kurzem war ich bei einem Erntedankfest auf der Mariahilferstraße, zufällig, da habe ich mich auch wie eine Minderheit im eigenen Land gefühlt, so ganz ohne Dirndl. (sorry)
Die Antwort auf die Frage, wie es die SPÖ mit der Fremden- und Asylpolitik hält, ist dann irgendwie auch spontaner als die von Van der Bellen letzte Woche: Grundsätzliche Zustimmung zu der umstrittenen Fremdenrechtsnovelle, welche die SPÖ damals mit der Schwarz-Blauen-Regierung mitbeschlossen hat, aber angesichts der zurückgehenden Einbürgerungen und Asylanträge "lautet das Gebot der Stunde Integration".

Aber die Frage, warum genau die FPÖ der Halbierung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und der Abschaffung der Studiengebühren zugestimmt hat, beantwortet sich einfach nicht. Die Halbierung der Mehrwertsteuer hängt vom BZÖ ab, und da hört man bei jedem Interview andere Aussagen (heute mit Haider im Mittagsjournal wieder eher ja, ich wette, am 24. wird der Antrag abgelehnt, aber ich lasse mich gerne überraschen), die Abschaffung der Studiengebühren, abgesehen davon dass sie nicht unbedingt das größte Interesse potentieller FPÖ-Wähler ist (von wegen, da muss dann der Hackler das Luxusleben der Bonzen-Studenten finanzieren, gewohntes Argument), wird sich die SPÖ dann alleine auf die Flaggen schreiben können, schließlich hätten sie damit ihr uraltes Wahlversprechen von vor zwei Jahren eingelöst. Studenten aus den EU-Ländern zahlen dann auch keine Studiengebühren, weil es ja den Gleichbehandlungsgrundsatz gibt, Studenten aus Drittstaaten, die weiterzahlen, waren noch nie das Problem, und wie die Studienplätze für österreichische Studenten gesichert werden sollen, lasse ich mir gerne erklären, tut aber niemand.

Am Ende noch: FPÖ und SPÖ sind sich in EU-Fragen deswegen nicht einig, weil die SPÖ einen Austritt grundsätzlich ablehnt und lediglich für eine "soziale, ökologische und bürgernahe" EU eintritt. Eine bürgernahe EU wäre für mich eine EU, in der es zu EU-weiten Abstimmungen kommt, weil das eine schöne Möglichkeit wäre, EU-Themen von der österreichischen Parteipolitik abzulösen, aber das ist ein Grüner Gedanke, kein sozialdemokratischer.
Und: Die FPÖ ist für eine Abschaffung des Verbotsgesetzes. Weil "Eine Demokratie muss verrückte und auch schwachsinnige Meinungen aushalten". Das nennt Faymann eine "Verniedlichung rechtsradikalen Gedankenguts", und ich muss ihm recht geben. Rechtsradikale sind genau dann gefährlich, wenn man sie sich nicht auf den ersten Blick als verrückt und schwachsinnig erkennen kann.

Zwei Diskussionen noch bis zur Wahl. Meine bisherigen Fehldiagnosen und kleinen Überraschungen: Ich habe das BZÖ bzw. die "Strahlkraft" von Jörg Haider unterschätzt (derzeit kommt das BZÖ auf 6 bis 8 Prozent), ich hätte nie damit gerechnet, dass die ÖVP einen dermaßen schlechten Wahlkampf führt (als wären sie von IHRER EIGENEN Entscheidung für Neuwahlen überrascht worden, bei vielen Gemeindeorganisationen fehlte das Geld für Wahlkampfveranstaltungen, wie konnte das in einer so stramm durchorganisierten Partei passieren?), ich bin überrascht davon, wie gut sich Faymann positionieren kann (vielleicht gefällt mir sogar der Gedanke, dass er vielleicht Bundeskanzler werden wird, auch wenn ich das nicht allzu laut zugeben würde), ich mache mir Sorgen um die Grünen, was die Nachfolge, die inneren Konflikte, die Klarheit der Positionen betrifft, ich neige offensichtlich wie viele andere politisch ähnlich-Denkende zu einer heimlichen Affinität für die Methoden des LIF, die aber nicht ausreicht, darüber hinweg zu täuschen, dass ich es 1. unheimlich finde, dass Heide Schmidt es überhaupt so viele Jahre neben Haider ausgehalten hat, bevor sie das LIF gegründet hat, und dass 2. das LIF von einem Großindustriellen lebt, weswegen sich die Sympathie darin äußert, dass ich mir einen Einzug ins Parlament wünsche, aber nicht selbst dazu beitragen werde.

Insgesamt hat sich das Bauchgefühl gebessert. Vor einem Monat war für mich die Möglichkeit einer Schwarz-Blauen Koalition nach der Wahl noch sehr realistisch, inzwischen liegen die Chancen dafür wohl bei 20 bis 30 Prozent?

2 comments:

? said...

I see you have a very political mind. Nice post. This is my first time on here and I would like to visit again. Ever read any books by leo tolstoy?

flame gun for the cute ones said...

I've never read any books by Tolstoy but this is definitely something I want to get to when I have time. Actually about two days ago I read about "The Death of Ivan Ilyich" and considered getting it from the library.