Friday, 26 November 2010

Marseille

In einem Interview zu Gespenster erklärte Julia Hummer die Motivation hinter ihrem Charakter, und erwähnte dabei, dass es in der deutschen Sprache das Wort "alleinig" geben müsste als Beschreibung einer Existenz. Nina ist nicht einsam. Nina ist nicht "allein" im Sinne eines Zustandes (nicht in der Gegenwart anderer) sondern existentiell ALLEINIG. Seit diesem Film ist mir noch nie ein Charakter begegnet, auf den die gleiche Beschreibung so sehr zutrifft, wie auf Maren Eggerts Sophie in Marseille.
Sie kommt an. Sie übernimmt von einer anderen Frau, mit der sie sich in gebrochenem Französisch unterhält, eine Wohnung. Sie streift durch die Stadt, macht Photos von Kreuzungen, beobachtet Menschen. Sie unterhält sich nur mit anderen, wenn sie Obst oder Schuhe kauft, sonst bleibt sie in sich verschlossen, fremd. Schließlich, als sich scheinbar so etwas wie eine konventionelle Handlung ergibt, geht sie mit einem Automechaniker aus, aber ist dann von der Direktheit und Bösartigkeit eines Freundes so sehr eingeschüchtert, dass nichts wirklich daraus wird - und dann folgt ein plötzlicher, desorientierender Schnitt und sie ist zurück in Deutschland, zurück in ihrer Wohnung, in der die geheimnisvolle andere Frau offenbar nicht gewohnt hat. Sie ist bei Freunden - einer Schauspielerin, einem professionellen Fotografen (Devid Striesow), der Portraits von Fabriksarbeiterinnen macht und irgendwo zwischen Authentizität und Iszenierung herumschweift - und ein Konflikt wird erwähnt (eine konventionelle unglückliche Liebe-Eifersuchtsgeschichte), aber niemals ausgetragen. Sie ist in der Küche mit dem Sohn der beiden, schneidet sich, findet ein Pflaster. Dann wieder ein desorientierender SChnitt und sie wird in einem französischen Polizeirevier befragt, erzählt brüchig genau die Geschichte, die ein konventioneller Film vielleicht als Hauptstory gehabt hätte, und versucht in Worte zu fassen, worum es eigentlich geht (in ihrem Leben, in ihrer Arbeit)- aber scheitert daran.
In Die Frau am Ende der Straße spielte Maren Eggert auch so eine verlorene Frau, deren Wahrnehmung die Zuseher ausgeliefert sind, aber Marseille ist in seiner Kompromisslosigkeit ein noch viel intensiveres Erlebnis. Der Film entzieht und verweigert sich, begehrt gegen Charaktere auf, die in jeder Situation eine passende Ansprache halten, gegen Charaktere, die entweder zu selbstsicher oder zu liebenswert verschroben sind, dagegen, dass man bei vielen Filmen in jeder Minute weiß, wo er hinführen wird, und sich in dieser Sicherheit aufgehoben fühlt.

2004, Regie: Angela Schanelec, mit Maren Eggert, Emily Atef, Alexis Loret, Marie-Lou Sellem, Devid Striesow.

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