Tuesday, 6 November 2012

Barbara


In Christian Petzolds Gespenster (2005) sprechen zwei der Hauptcharaktere bei einem Casting für eine Reality TV-Serie namens Freundinnen vor. Toni (Sabine Timoteo) erzählt eine fiktive Geschichte darüber, wie die beiden einander kennenlernten, die in all ihren Details den dramatischen Anforderungen zu entsprechen scheint. Nina (Julia Hummer) erwidert, stotternd und mit gesenktem Blick, mit einer eindringlichen Nacherzählung ihres tatsächlichen Treffens, deren Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit so mitreißend ist, dass die beiden danach vom Produzenten angesprochen werden. Warum ist Ninas Geschichte, die von fehlendem Mut und Angst geprägt ist, emotionaler als die Tonis? Es ist nicht nur, weil sie die Realität nacherzählt, eine Szene, welche die Zuseher bereits gesehen haben, die in ihren eigenen Worten drastischer wird – sondern auch die Art der Erzählung, ihre Mimik und Gestik, und die Spannung, die plötzlich entsteht, weil diese Entwicklung nicht vorher abgesprochen war und Tonis von all dem nichts gewusst hat (es ist ihre Geschichte, aber Nina beansprucht sie, indem sie diese der Öffentlichkeit zugänglich macht). Geschichten geben uns Bedeutung, aber sie entstehen auch immer in der Auseinandersetzung miteinander und mit dem Publikum.
In Barbara gibt es drei Szenen, in denen der Film scheinbar aufbricht und über das Erzählen erzählt. Gegen Anfang erklärt André (Ronald Zehrfeld), Chefarzt des Krankenhauses, in das Barbara (Nina Hoss) versetzt wurde, nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hat, warum er trotz seines Interesses an Forschung und seines umfassenden Wissens in der Provinz gelandet ist. Vor zwei oder drei Jahren machte er einen entscheidenden Fehler, der schreckliche Konsequenzen hatte – es ist wiederum eine Geschichte des Scheiterns – und hat sich jetzt mit dem einfachen Leben abgefunden, auch wenn er daran arbeitet, ein professionell ausgestattetes Labor einzurichten. Barbaras Reaktion auf die Geschichte ist, ebenso wie ihr gesamter Umgang mit dem Personal des Krankenhauses, kühl und zurückhaltend, und André fragt: „Zu lang die Geschichte? Zu rund?“ 
Der Film beantwortet diese Frage nicht. War es nur eine Geschichte? War es eine perfekt auf die Anforderungen ausgerichtete Erzählung, um Barbaras Vertrauen zu gewinnen? Schließlich ist André über Barbaras Übertretungen informiert, und zwischen den beiden herrscht ein ständiges Gefühl des Misstrauens, da Barbara vermutet, André sei Stasi-Informant und aus diesem Grund so vertraulich und zugänglich. Eine andere Frage ist, ob Barbara überhaupt irgendeine Geschichte glauben könnte, in einem Land, in dem ein Ausreiseantrag ausreicht, ihre Karriere zu zerstören und sie wöchentlich einem grauenvollen herabsetzenden Ritual der Kontrolle auszusetzen, wenn die Stasi klopf und jeden Millimeter ihrer Wohnung auseinander nimmt und ihre körperliche Autonomie in Frage stellt. Wie ist ein richtiges Leben oder authentische Gefühle unter ständiger Beobachtung und einem gesellschaftlich anerzogenen gegenseitigem Misstrauen überhaupt möglich? Barbara flieht in die Kälte, André in die Geschichten anderer. Zwei der Patienten, die Barbara behandelt, fliehen blindlings ohne Plan, selbstzerstörerisch und wild. 
Wir finden bald heraus, dass Barbaras Distanz zu diesem Leben, diesen Menschen, zum Teil daher rührt, dass sie auf ihre Flucht wartet. Sie ist im Inbegriff zu fliehen, während ihr Geliebter im Westen alles vorbereitet, das Geld, den Transportweg. Diese Verbindung zu jemandem von außen könnte die Alleinigkeit der Protagonistin aufbrechen, scheitert aber gänzlich an dem Verständnis von Freiheit der beiden – der Mann aus dem Westen erklärt stolz, er verdiene genug für sie beide und sie müsse im Westen nicht mehr arbeiten, ohne zu beachten, dass das einzige, was Barbara selbst hier nahe geht, ihre Arbeit ist – und meint schließlich sogar, sie könnten doch beide ein Leben hier beginnen. 
„Du spinnst. Hier kann man nicht glücklich werden.“
Das Glück, und die Freiheit, stehen im Zentrum dieses Filmes. Kann man glücklich werden in einem Land, in dem manche so überwältigend unglücklich sind, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen um zu entkommen? Barbara trifft auf Stella, eine junge Frau, die wieder und wieder aus einem Arbeitslager flieht, und dabei dem Tod immer näher kommt. Gegenüber diesen Patienten zeigt sie mehr Einfühlungsvermögen und Sympathie, als für die Kollegschaft, selbst wenn diese, wie André, den Kontakt sucht. Barbara identifiziert sich mit den Außenseitern dieser Gesellschaft, die sie verabscheut, gegen die sie aber nur durch das Tragen von geschmuggelten Luxusartikeln aufbegehren kann, während sie auf ihre Erlösung wartet. 
An einem Punkt driftet André ab (er wirkt wie ein Träumer, aber der Film lässt auch immer die Frage offen, ob genau dieser Eindruck, dieses Vertrauenserweckende, nicht gefährlich ist) und versucht sich an einer Bildinterpretation von Rembrandts Die Anatomie des Dr. Tulp: Die Ärzte starren auf ein Anatomiebuch, während der Patient, der wund und offen vor ihnen liegt, konventioneller Anatomie nicht entspricht. Die Interpretation könnte beinahe als Allegorie auf das System der DDR verstanden werden, gegen das Barbara auf ihre Weise aufbegehrt, während sich André mit seinen kleinen Momenten des Glücks – der Klavierstimmer, die romantischen Arztromane, sein kleines Labor im Hinterzimmer – arrangiert hat. 
Am Ende ist die Frage von Glück und Freiheit auch eine Frage der persönlichen Verantwortung. Was ist die Freiheit wert, wenn die moralischen Kosten zu hoch sind? Barbara erkauft die Freiheit Stellas, eine Freiheit für jemanden, der sonst körperlich zu Grunde gehen würde, während für sie selbst das Leben hier vielleicht erträglich sein könnte, wenn sie es zuließe. Erträglich, aber nicht glücklich, und nicht frei.

2012, Regie: Christian Petzold, mit Nina Hoss, Ronald Zehrfeld, Rainer Bock, Christina Hecke, Claudia Geisler, Jasna Fritzi Bauer.

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