Tuesday 19 September 2006

Juli Zeh - Spieltrieb

Der Roman der 1974 geborenen Juristin Juli Zeh setzt scheinbar an, wo "Hard Candy" aufhört, bzw. wirft genau die gleichen Fragen über diese neue Generation, die heute zwischen 14 und 18 ist, auf. Die 90er waren die Zeit der Psychopharmaka, jeder glaubte, Verhaltensmuster mit Haushaltspsychologie einfach erklären zu können – der Mensch wurde als lebendiges Bündel aus Neurosen und Psychosen verstanden, dass sich recht leicht in einem Gespräch entwirren ließ.
Dieses Verständnis zieht sich vor allem durch die Fernsehserien dieser Zeit, egal ob "Dawson's Creek" für die Jugend oder "Ally McBeal" für die Älteren. Das Problem wird in dem Roman selbst ausgesprochen, denn all dieses Erklärungsversuche müssen an der Hauptfigur Ada scheitern.
Auch nach dem zweiten Durchlesen bleibt der Versuch, den entscheidenden Antrieb, die Begründung zu finden, ohne Erfolg. Die Erzählern, die sich am Ende als tatsächliche Richterin herausstellt, kann über den Fall nicht urteilen, auf den das Geschehen hinausläuft, da die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwinden.
Zeh zeichnen hier das Portrait einer Generation, die sich selbst als verbindungslose Gruppe an Individuen versteht. Ada ist klüger als ihr Umfeld aber gerade ihr scharfes Verständnis für komplexe Zusammenhänge macht ihr Leben nicht einfacher – das Zusammenfallen ihrer Patchworkfamilie scheint sie nicht zu rühren, ganz im Gegenteil, sind ihre Mutter und der Stiefvater irrelevante Statisten dieser Geschichte, die mit der Welt noch weniger zurecht kommen als Ada Selbst, und ihr nichts bieten könnten. Ihren Lehrern, die selbst an der Welt verzweifeln, ist sie intellektuell und argumentativ überlegen, auf ihre großteils älteren Klassenkameraden sieht sie (zu Recht) herab – es ist die Zeit des Irakkriegs, in dem selbst der politisch desinteressierte Jugendliche das Imperialismus-Terror-Ölgebet nachsprechen kann.
Das Buch lässt zwei verschiedene Deutungen zu- Intellektuelle Langeweile, oder beinahe schon animalische Getriebenheit durch obsessive Gefühle. Als Alev, ein neuer Schüler, auftaucht, zeigt sich Ada das erste Mal wirklich fasziniert, sie verliebt sich vielleicht sogar in ihn, zeigt sich aber auf jeden Fall bereit, alles für ihn zu tun. Alev entschließt sich zu einem Spiel, welches den liebenswerten, polnischen Deutschlehrer Smutek involviert: Ada soll ihn verführen, um ihn erpressbar zu machen. Wiederum: warum wird nicht gefragt, es ist ein Spiel für das Piel, eine Generation – die Urenkel der Nihilisten – die an Nichts mehr nicht glauben, also an Alles glauben. Welche moralischen Grundsätze gelten überhaupt noch in so einer Welt, für solche Menschen? Gibt es überhaupt irgendwelche in Gesetzen geschmiedete Moralvorstellungen, die hier greifen könnten? Ada entzieht sich auch einer literarischen Bewertung zwischen Helden, Antihelden und Antagonisten. Auf jeden Fall gewinnt sie am Ende das Spiel und geht wie ihre Namensgeberin aus Lolita aus dem Roman.
Ob man diesen Roman in 2 Jahren noch lesen wird können, bleibt fraglich, aber für jeden, der die letzten Jahre genau in diesem Spannungsverhältnis zwischen Politik, Unerklärbarkeit von Columbine und Erfurt (das musste uns ja nicht erst "Elephant" näher bringen) und steigender psychologischer Gewalt an den Schulen gelebt hat, bleibt Juli Zehs Roman unumgänglich.
Der entscheidende Moment ist Adas Plädoyer am Ende des Buches, welches den Rechtstaat nicht mehr als gültig, als absolut überholt und irrelevant darstellt. Für diese Generation fällt es schwer, existente Normen, selbst die Unterscheidung zwischen gut und böse, zu übernehmen – sie scheint nicht mehr zu existieren, wenn sich alle auf das Spiel einlassen und jene im Recht sind, die am Ende gewinnen. Dies mag eine persönliche Konsequenz aus einer politischen Beobachtung sein. Der Stärkere bestimmt, was gut und böse ist, er unterscheidet schließlich auch Freiheitskampf und Terrorismus und braucht keine moralischen Begründungen.
Wir haben damals 2003 alle protestiert, und es hat nichts genützt. Das Wunder ist, dass nicht jeden Tag ein solches Unglück wie in Columbine passiert.

1 comment:

Yvonne said...

Ein tolles, tiefes und vielschichtiges Buch, das mich ebenfalls sehr beeindruckt hat (http://www.leselink.de/buecher/entwicklungsroman/spieltrieb.html). Insgesamt mag ich Juli Zehs Bücher sehr gern, vor allem auch "Adler und Engel" und "Corpus Delicti".