Wenn in jeder Einführungsvorlesung über die Politik in Österreich früher oder später von "Amerikanisierung" gesprochen wird, haben die Studenten eine vage Idee, was das bedeuten könnte. Wir kennen amerikanische Politik aus der österreichischen Berichterstattung, manche lesen vielleicht amerikanische Zeitungen und sehen ab und zu Ausschnitte aus amerikanischer Politikberichterstattung auf CNN oder MSNBC.
Man kann etwas theoretisch kennen, man kann eine Vorstellung haben. Und dann eine Stunde lang die Liveberichterstattung von der Democratic National Convention in Denver sehen, mitten in der Nacht auf CNN, und erkennen, dass man keine Ahnung hatte.
Erstens, formal, der Vorgang. In den Primaries wird entschieden, welcher Kandidat für die Parteien antritt. Der Weg dorthin ist kompliziert. Das Entscheidungsverfahren beginnt in den amerikanischen Bundesstaaten, die verschiedene Vorgänge festgelegt haben, um zu einem Ergebnis zu kommen. In manchen Staaten finden sogenannte "closed primaries" statt, an denen nur als Demokraten oder als Republikaner registrierte Wähler teilnehmen können. Semi-closed primaries geben Unabhängigen die Möglichkeit, entweder für Republikaner oder für Demokraten zu stimmen, open primaries lassen es allen Wählern offen, welchen Präsidentschaftskandidaten sie nominieren. Der Kandidat wird nicht direkt gewählt, stattdessen nominieren die Wähler sogenannte "delegates" (bei den Demokraten geschieht dies proportional zum Wahlergebnis, die Republikaner lassen es den Bundesstaaten offen, teilweise proportional, teilweise "winner-take-all" wie bei den Federal Elections) die bei der National Convention der jeweiligen Partei dann an ihre Entscheidung gebunden sind (sogenannte "pledged delegates"). Die sogenannten Superdelegates stellen die Parteiprominenz dar, die nicht im Verlauf der Primaries nominiert werden und frei wählen dürfen. Sie machen etwa 20 % der gesamten Stimmen aus und können die Wahl entscheiden.
So kompliziert, so gut. Jeder der Bundesstaaten hat dann bei der National Convention eine bestimmte Anzahl an Stimmen, die sie an die jeweiligen Kandidaten vergibt. Insgesamt waren bei den demokratischen Vorwahlen 4233 Stimmen zu vergeben, Obama brauchte mindestens die Hälfte.
wiki links:
United States presidential primary
Democratic Party (United States) primaries 2008
2008 Democratic National Convention
Da Hillary Clinton erst Anfang Juni nach einem zerstörerischen Wahlkampf aufgegeben hat, sind die Gräben innerhalb der demokratischen Partei tief. Viele der Argumente, die Clinton in ihrem Wahlkampf gegen Obama verwendet hat, finden sich jetzt im Republikanischen Wahlkampf wieder. Andererseits war ihr Verhalten irgendwie verständlich, so offen sexistisch wie die Berichterstattung in einigen Fällen war, wie ihr jede Emotion sofort vorgehalten wurde, sobald die den Demokraten zugewandten Medien auf den Obama-Train aufgesprungen waren. Der Ziel der DNC: Einigkeit vorspielen, die Gräben überwinden, gemeinsam hinter einem Kandidaten stehen, vor allem, da dieser nach dem Blitzstart im Wahlkampf inzwischen ein wenig zurückfällt und einen Bestseller gegen sich hat, der aus einem verworrenen, aber wirksamen republikanischen Think Tank entsprungen ist ("The Obama Nation" von Jerome R. Corsi, wo Obama nur haarscharf davon entfernt ist, ein terroristischer muslimischer marxistischer Pazifist zu sein. Huh?). Es geht darum, eine sogenannte "brokered convention" zu vermeiden, die es zuletzt 1948 bei den Republikanern gegeben hat: der favorisierte Kandidat dem nach den Vorwahlen in den Bundesstaaten die Nominierung bereits vorausgesagt wurde, verlor bei der Convention die endgültige Wahl. Franklin D. Roosevelt wurde so 1932 sogar Präsident. Vergangenen Dienstag sprach Hillary bei der Convention ihr "endorsement" aus:
Die Deligierten sind in einer riesigen Halle versammelt. Sie stehen in Gruppen um Schilder mit ihren jeweiligen Bundesstaaten zusammen.
Die Moderatorin des Events, eine unheimlich aussehende altersmäßig nicht einschätzbare Dame, die manchmal noch schlimmer hängt als einige der SchauspielerInnen bei den Academy-Award-Vergaben. In einem kurzen Moment des Horrors halte ich sie für Nancy Pelosi, Speaker des Repräsentantenhauses seit die Demokraten dort wieder die Mehrheit haben, die erste Frau überhaupt, die diese Position inne hat. Eine Politikerin, die liberale Positionen vertritt und eher am linken Rand der demokratischen Partei zu finden ist. Aber das ist nicht Nancy Pelosi, die hat lediglich den Vorsitz. Die Dame mit dem texanischen Akzent heißt Alice Travis Germond, Secretary of the Democratic National Committee.
Dann werden die Staaten nacheinander aufgerufen. Jemand in den lose zusammenstehenden Gruppen nimmt das Mikrofon und beginnt eine lange, je nach Talent gute oder furchtbare Rede, welche die Vorzüge des jeweiligen Bundesstaates preist. "Boston, of the winning Boston Red Sox and the Boston Celtics!!!!" "Kansas, home of Barack Obama's grandparents!!!!". Die weniger glücklichen Staaten: "we suffered most from George Bush's policies!" (Michigan, wo die ärmste Stadt Detroit liegt). Egal, wie die Rede aussieht, am Ende muss auf jeden Fall ein "We cast xx votes for the next President of the United States, Barack Obama" stehen. Zwischendurch kommen unprovozierte, spontane "Yes We Can" schreie. Wie bei der Welle im Stadion. Irgendwer fängt halt an, und dann machen alle mit.
Was aber nicht wirklich darüber hinwegtäuscht, dass erstaunlich viele Stimmen trotzdem an Hillary Clinton vergeben werden, ungefähr 1/4 oder 1/5 zumindest. Einige Stunden zuvor hat sie es ihren Deligierten frei gestellt, nach eigenem Gewissen zu wählen (sie hat ihnen nicht empfohlen, Obama zu wählen). Manchen Sprechern sieht man die Begeisterung für Obama an, andere müssen sich sehr zurückhalten, um nicht offen zu zeigen, dass sie viel lieber ein Ergebnis vorlesen würden, das Clinton näher an die Nominierung bringt.
Dann, als sich die Prozedur schon mindestens eine Stunde hingezogen hat, wird sie unterbrochen. New Mexico lässt Illinois den Vortritt, aber der Heimatstaat von Obama liest die Ergebnisse nicht vor: er lässt New York den Fortritt. Inzwischen hat sich Hillary Clinton durch die Massen an Deligierten zu dem Staat vorgekämpft, in dem sie Senatorin ist. Und jetzt kommt die große Geste, auf die alle gewartet haben, die große Inszenierung, und ich frage mich, wie sehr es ihr wehtut, das tun zu müssen, wie gerne sie jetzt lieber alles dem üblichen Lauf überließe und weiter dabei zusieht, wie Obama zwar viele, aber keineswegs alle Stimmen bekommt. Stattdessen ließ sie die Prozedur unterbrechen (she "moved that the roll call be suspended" wie es schön kompliziert heißt) um den Nominierten per "Acclamation" zu wählen (dabei müssen die Delegierten ganz laut "aye" oder "nay" schreien. Wer am lautesten schreit, hat gewonnen.)
Irgendwie...hatte ich an keinem Punkt dieser Inszenierung das Gefühl, dass diese Idee von Einheit wirklich wirksam geworden ist. Inwieweit enttäuschte Hillary-Wähler bei den Wahlen tatsächlich zu John McCain überlaufen, wird sich erst dann zeigen.
Alles in allem, ein merkwürdiges Spektakel. Ein ungewohntes vor allem, weil mir spontan kein politisches Ritual einfällt, das in Österreich damit vergleichbar wäre: das ist wie Sport, das ist wie ein Popkonzert, hat aber nichts damit zu tun, wie in Österreich Wahlen oder der Wahlkampf abgewickelt werden. Streckenweise war es so pathetisch, dass es schwer war, dies überhaupt als Realität wahrzunehmen: aber vielleicht irre ich mich auch und es wäre genau diese Art von Party-Politik, die das Desinteresse an Politik verringern könnte. Aber ich glaube das nicht, denn die Politikverdrossenheit in den USA ist genau so groß, trotz des Spektakels.
NY Times: Obama Wins Nomination; Biden and Bill Clinton Rally Party
Politico: Democrats nominate Obama by acclamation
Vor den Wahlen lesen:
Jon Stewarts "America - The Book" (even better yet, "America - The Book - The Audiobook"). "The most trusted man in America" stellt das amerikanische politische System vor.
Natürlich Sarah Vowells "The Partly Cloudy Patriot" und "Assassination Vacation".
Die "Narratives of Empire"-Serie von Gore Vidal: "Burr", "Lincoln", "1876", "Empire", "Hollywood", "Washington D.C." und "The Golden Age".
Man kann etwas theoretisch kennen, man kann eine Vorstellung haben. Und dann eine Stunde lang die Liveberichterstattung von der Democratic National Convention in Denver sehen, mitten in der Nacht auf CNN, und erkennen, dass man keine Ahnung hatte.
Erstens, formal, der Vorgang. In den Primaries wird entschieden, welcher Kandidat für die Parteien antritt. Der Weg dorthin ist kompliziert. Das Entscheidungsverfahren beginnt in den amerikanischen Bundesstaaten, die verschiedene Vorgänge festgelegt haben, um zu einem Ergebnis zu kommen. In manchen Staaten finden sogenannte "closed primaries" statt, an denen nur als Demokraten oder als Republikaner registrierte Wähler teilnehmen können. Semi-closed primaries geben Unabhängigen die Möglichkeit, entweder für Republikaner oder für Demokraten zu stimmen, open primaries lassen es allen Wählern offen, welchen Präsidentschaftskandidaten sie nominieren. Der Kandidat wird nicht direkt gewählt, stattdessen nominieren die Wähler sogenannte "delegates" (bei den Demokraten geschieht dies proportional zum Wahlergebnis, die Republikaner lassen es den Bundesstaaten offen, teilweise proportional, teilweise "winner-take-all" wie bei den Federal Elections) die bei der National Convention der jeweiligen Partei dann an ihre Entscheidung gebunden sind (sogenannte "pledged delegates"). Die sogenannten Superdelegates stellen die Parteiprominenz dar, die nicht im Verlauf der Primaries nominiert werden und frei wählen dürfen. Sie machen etwa 20 % der gesamten Stimmen aus und können die Wahl entscheiden.
So kompliziert, so gut. Jeder der Bundesstaaten hat dann bei der National Convention eine bestimmte Anzahl an Stimmen, die sie an die jeweiligen Kandidaten vergibt. Insgesamt waren bei den demokratischen Vorwahlen 4233 Stimmen zu vergeben, Obama brauchte mindestens die Hälfte.
wiki links:
United States presidential primary
Democratic Party (United States) primaries 2008
2008 Democratic National Convention
Da Hillary Clinton erst Anfang Juni nach einem zerstörerischen Wahlkampf aufgegeben hat, sind die Gräben innerhalb der demokratischen Partei tief. Viele der Argumente, die Clinton in ihrem Wahlkampf gegen Obama verwendet hat, finden sich jetzt im Republikanischen Wahlkampf wieder. Andererseits war ihr Verhalten irgendwie verständlich, so offen sexistisch wie die Berichterstattung in einigen Fällen war, wie ihr jede Emotion sofort vorgehalten wurde, sobald die den Demokraten zugewandten Medien auf den Obama-Train aufgesprungen waren. Der Ziel der DNC: Einigkeit vorspielen, die Gräben überwinden, gemeinsam hinter einem Kandidaten stehen, vor allem, da dieser nach dem Blitzstart im Wahlkampf inzwischen ein wenig zurückfällt und einen Bestseller gegen sich hat, der aus einem verworrenen, aber wirksamen republikanischen Think Tank entsprungen ist ("The Obama Nation" von Jerome R. Corsi, wo Obama nur haarscharf davon entfernt ist, ein terroristischer muslimischer marxistischer Pazifist zu sein. Huh?). Es geht darum, eine sogenannte "brokered convention" zu vermeiden, die es zuletzt 1948 bei den Republikanern gegeben hat: der favorisierte Kandidat dem nach den Vorwahlen in den Bundesstaaten die Nominierung bereits vorausgesagt wurde, verlor bei der Convention die endgültige Wahl. Franklin D. Roosevelt wurde so 1932 sogar Präsident. Vergangenen Dienstag sprach Hillary bei der Convention ihr "endorsement" aus:
"My friends, it is time to take back the country we love. And whether you voted for me or you voted for Barack, the time is now to unite as a single party with a single purpose. We are on the same team, and none of us can afford to sit on the sidelines. This is a fight for the future, and it's a fight we must win together."Jetzt aber zu dem Event, zur Wahl, zu Inszenierung von Politik. Der oben beschriebene komplizierte Prozess klingt trocken, nach einer mathematischen Spielerei. Was die DNC aber ist, widerspricht der Komplexitität des Prozesses. Das ist ein riesiger Event, ein monströs aufgeblasenes Ding das in der Abwicklung wie ein größenwahnsinniger Eurovisionscontest wirkt.
[link]
Die Deligierten sind in einer riesigen Halle versammelt. Sie stehen in Gruppen um Schilder mit ihren jeweiligen Bundesstaaten zusammen.
Die Moderatorin des Events, eine unheimlich aussehende altersmäßig nicht einschätzbare Dame, die manchmal noch schlimmer hängt als einige der SchauspielerInnen bei den Academy-Award-Vergaben. In einem kurzen Moment des Horrors halte ich sie für Nancy Pelosi, Speaker des Repräsentantenhauses seit die Demokraten dort wieder die Mehrheit haben, die erste Frau überhaupt, die diese Position inne hat. Eine Politikerin, die liberale Positionen vertritt und eher am linken Rand der demokratischen Partei zu finden ist. Aber das ist nicht Nancy Pelosi, die hat lediglich den Vorsitz. Die Dame mit dem texanischen Akzent heißt Alice Travis Germond, Secretary of the Democratic National Committee.
Dann werden die Staaten nacheinander aufgerufen. Jemand in den lose zusammenstehenden Gruppen nimmt das Mikrofon und beginnt eine lange, je nach Talent gute oder furchtbare Rede, welche die Vorzüge des jeweiligen Bundesstaates preist. "Boston, of the winning Boston Red Sox and the Boston Celtics!!!!" "Kansas, home of Barack Obama's grandparents!!!!". Die weniger glücklichen Staaten: "we suffered most from George Bush's policies!" (Michigan, wo die ärmste Stadt Detroit liegt). Egal, wie die Rede aussieht, am Ende muss auf jeden Fall ein "We cast xx votes for the next President of the United States, Barack Obama" stehen. Zwischendurch kommen unprovozierte, spontane "Yes We Can" schreie. Wie bei der Welle im Stadion. Irgendwer fängt halt an, und dann machen alle mit.
Was aber nicht wirklich darüber hinwegtäuscht, dass erstaunlich viele Stimmen trotzdem an Hillary Clinton vergeben werden, ungefähr 1/4 oder 1/5 zumindest. Einige Stunden zuvor hat sie es ihren Deligierten frei gestellt, nach eigenem Gewissen zu wählen (sie hat ihnen nicht empfohlen, Obama zu wählen). Manchen Sprechern sieht man die Begeisterung für Obama an, andere müssen sich sehr zurückhalten, um nicht offen zu zeigen, dass sie viel lieber ein Ergebnis vorlesen würden, das Clinton näher an die Nominierung bringt.
Dann, als sich die Prozedur schon mindestens eine Stunde hingezogen hat, wird sie unterbrochen. New Mexico lässt Illinois den Vortritt, aber der Heimatstaat von Obama liest die Ergebnisse nicht vor: er lässt New York den Fortritt. Inzwischen hat sich Hillary Clinton durch die Massen an Deligierten zu dem Staat vorgekämpft, in dem sie Senatorin ist. Und jetzt kommt die große Geste, auf die alle gewartet haben, die große Inszenierung, und ich frage mich, wie sehr es ihr wehtut, das tun zu müssen, wie gerne sie jetzt lieber alles dem üblichen Lauf überließe und weiter dabei zusieht, wie Obama zwar viele, aber keineswegs alle Stimmen bekommt. Stattdessen ließ sie die Prozedur unterbrechen (she "moved that the roll call be suspended" wie es schön kompliziert heißt) um den Nominierten per "Acclamation" zu wählen (dabei müssen die Delegierten ganz laut "aye" oder "nay" schreien. Wer am lautesten schreit, hat gewonnen.)
Irgendwie...hatte ich an keinem Punkt dieser Inszenierung das Gefühl, dass diese Idee von Einheit wirklich wirksam geworden ist. Inwieweit enttäuschte Hillary-Wähler bei den Wahlen tatsächlich zu John McCain überlaufen, wird sich erst dann zeigen.
Alles in allem, ein merkwürdiges Spektakel. Ein ungewohntes vor allem, weil mir spontan kein politisches Ritual einfällt, das in Österreich damit vergleichbar wäre: das ist wie Sport, das ist wie ein Popkonzert, hat aber nichts damit zu tun, wie in Österreich Wahlen oder der Wahlkampf abgewickelt werden. Streckenweise war es so pathetisch, dass es schwer war, dies überhaupt als Realität wahrzunehmen: aber vielleicht irre ich mich auch und es wäre genau diese Art von Party-Politik, die das Desinteresse an Politik verringern könnte. Aber ich glaube das nicht, denn die Politikverdrossenheit in den USA ist genau so groß, trotz des Spektakels.
NY Times: Obama Wins Nomination; Biden and Bill Clinton Rally Party
Politico: Democrats nominate Obama by acclamation
Vor den Wahlen lesen:
Jon Stewarts "America - The Book" (even better yet, "America - The Book - The Audiobook"). "The most trusted man in America" stellt das amerikanische politische System vor.
Natürlich Sarah Vowells "The Partly Cloudy Patriot" und "Assassination Vacation".
Die "Narratives of Empire"-Serie von Gore Vidal: "Burr", "Lincoln", "1876", "Empire", "Hollywood", "Washington D.C." und "The Golden Age".
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