Tocotronic - Schall und Wahn

Tocotronics Anziehungskraft entspring zu guten Teilen aus dem Umstand, dass sich die Band bemüht, Positionen DAGEGEN zu formulieren. Gegen die Idee einer ständigen Verfügbarkeit, gegen die projektorientierte polis des Kapitalismus, gegen Kreativität als pervertierter Imperativ zur Selbstausbeutung ("mach es nicht selbst"). Ein glückliches Zusammentreffen aus persönlicher Krise und Erlösungsversprechungen wie bei "Kapitulation" (als "Sag alles ab" wie die Hymne zur unbewältigten Lebenssituation erschient) wird es wohl nie wieder geben, weswegen diese Behandlung von Toctronics "Schall und Wahn" spät erfolgt, und ohne wirklich guten Aufhänger. Da sind immer noch diese Textzeilen, die man sofort nach draußen auf die nächsten Wand tragen will - nicht einmal so sehr, um den eigenen Widerstand zur Schau zu stellen, sondern weil man meint, dass es anderen Menschen helfen könnte, Zeilen wie "Im Zweifel für den Zweifel / Und für die Pubertät / Im Zweifel gegen Zweisamkeit / Und Normativität" im Alltag zu begegnen.
Tocotronics Musik: es erscheint unfair, diesen Aspekt der Musik immer Zugusten der Texte linksliegen zu lassen, und der erste Song, "Eure Liebe tötet mich", ruft geradezu dazu auf, den Text mal nur als Zusatz zu verstehen, denn er beschränkt sich auf zwei wiederholte Zeilen in zehn Minuten, ein guter Teil davon Gitarrensoli wie aus den Siebzigern. An anderen Stellen klingen Tocotornic plötzlich wie The Cure am Anfang ihrer Karriere, ca. "Boys Don't Cry", alles kleine Irritationen im Angesicht der "Drei-Akkorde-Schülerband" von vor 15 Jahren.
Das Problem, Gegenpositionen gegen den Kapitalismus zu formulieren, ist seine ewige Anpassungsfähigkeit und unentwegte Absorbierung jeglicher Kritik (der Kapitalismus ist wie die Borg in "Star Trek"). Irgendwie, zwischen den Zeilen ("meine Herrschaft beherrscht mich" - "Gesang des Tyrannen"), kommt die Ausweglosigkeit eines solche Unterfangens immer wieder durch, aber das heißt noch lange nicht, dass man es nicht zumindest versuchen sollte.