Wednesday 22 October 2008

Jerichow

Die Bedingungen, unter denen Liebe möglich ist: in "Jerichow" fügt Petzold seinem Puzzle ein weiteres Teil hinzu. Ich kann nicht mehr beurteilen, wie die Filme für sich selbst gesehen wirken, weil ich sie nur noch im Gesamtzusammenhang sehe. Im Abspann des Filmes wird der Stadt Wittenburge gedankt - der Film ist nach der Stadt benannt, in der er spielt, aber er ist auch egal, wichtig ist die Eigenschaft "strukturschwach". "Jerichow" spielt dort, wo Yellas Flucht begonnen hat. In diesem Vakuum finden zwei Bewegungen statt: Thomas (Benno Fürmann) zieht in das Haus seiner vor kurzem verstorbenen Mutter, um es zu renovieren. Er hat alle Freunde verloren, als ehemaliger Soldat keine Arbeit, kein Geld.
Ali (Hilmi Sözer) ist erfolgreicher Geschäftsmann, der einige Fast-Food-Buden in der Umgebung betreibt. Er ist mit seiner Frau Laura (Nina Hoss) in ein altes Haus gezogen, das er dort renoviert hat - "Heimatbuilding" nennt Petzold das, die im Osten Deutschlands in dem scheinbar geschichslosen und verfallenden Gebiet ohne andere Bestimmung stattfindet, wo nach amerikanischem Vorbild gebaut wird, ohne dass noch die wirtschaftlichen Grundlagen vorhanden wären, um irgendetwas aufrecht zu erhalten.
Ali stellt Thomas als Fahrer ein, ohne zu bemerken, dass der eine Affäre mit seiner Frau begonnen hat. Die beiden sind einander verfallen - obwohl Thomas jeden Tag beobachten kann, dass Ali krankhaft eifersüchtig ist, jeden Schritt Lauras überwacht.
Etwa in der Mitte des Films kommt der Punkt, an dem sich die Perspektive ändert. Zuerst ist Thomas das Zentrum des Filmes - wie von Petzold gewohnt, wird er von außen beobachtet, sein Gang sagt mehr über ihn aus als alles, was er sagt (was sowieso nicht sehr viel ist). Wir erfahren nicht mehr von seiner Vorgeschichte, als er in den ersten acht Minuten des Filmes von sich gibt. Laura, von Hoss mit einer irritierend genialen Unantastbarkeit gespielt, ist anfangs nur ein Objekt der Begierde, eine Hülle ohne Geschichte. Bis sie erzählt, dass sie im Gefängnis war, Schulden hatte, und von Ali freigekauft wurde: wenn sie ihn verlässt, bleibt ihr nichts als die Schulden. Thomas ist kein heldenhafter Ritter, der sie befreien könnte.
"Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat" - Der einzige Ausweg, der den beiden einfällt, ist wiederum eine Geschichte, nicht unähnlich der, die sich Nina und Toni in "Gespenster" erzählen. Vom ersten Wort an merkt der Zuseher, dass nichts davon real ist, aber für die beiden ist nur wichtig, dass sie selbst daran glauben können. Ali selbst sagt - "ich lebe in einem Land, das mich nicht will, mit einer Frau, die ich gekauft habe" - und am Ende wird das Dreiecksdrama auf brutale Art aufgelöst.

Was an jedem Petzold-Film beeindruckt, ist die Fähigkeit, die tragische Geschichte immer in eine bestimmte Umgebung einzubetten, die sozio-ökonomisch präzise beschrieben wird, obwohl es nur kleine Pinselstriche sind. Das verfallende Haus der verstorbenen Mutter, das Thomas renovieren will, im Gegensatz zu der modernen, teuren Kücher in Alis Haus, das Baumhaus, das sich im Laufe des Filmes als nur eines von vielen Symbolen zweier in der Entwicklung steckengebliebener Individuen erweist (in der zweiten Szene, in der Laura vorkommt, schaukelt sie verspielt, eine Eigenschaft, die man ihr unbeobachtet nie zutrauen würde). Bevor Thomas Ali kennenlernt, arbeitet er als Gurkenpflücker als Zahnrad in einer absurd aussehenden Maschine namens "Gurkenflieger" - in einer Gegend, in der die Festanstellung als Standard-Lebensentwurf schon längst der Vergangenheit angehört und selbst die Diskonter schon wieder zusperren.
Genau so spannend, wie präzise jede Szene ausgearbeitet ist. Es braucht keine fünf Sekunden, um zu wissen, dass man in einem Petzold-Film sitzt. Der Blick auf die Charaktere ist ein unverwechselbarer. Deswegen auch immer eine ganz große Empfehlung, jede Chance zu nützen, wenn der Regisseur über seine Filme spricht: man merkt, dass hinter jedem Detail viele Gedanken stecken. Und das wichtigste: man muss nicht immer alles sehen. Manche Dinge spiegeln sich in den Gesichtern und Haltungen der Figuren besser wieder, als sie es in den Augen der Zuseher tun könnten.

2008. Regie und Drehbuch: Christian Petzold, mit Benno Fürmann, Nina Hoss, Hilmi Sözer, André Hennicke. Früher oder später im Stadtkino?

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