Friday, 3 November 2006

Hard Candy

Jede Annäherung an diesen Film kann nur ein Versuch sein, der mit größerer Wahrscheinlichkeit fehlschlägt als gelingt.
Am Anfang des Filmes, in den der Zuseher am besten gänzlich unvorbereitet geht, verabreden sich ein vierzehnjähriges Mädchen und ein älterer Mann in einem Chatroom. Die Erwartungshaltung dazu ist geprägt von den Nachrichten, von unserer Weltvorstellung, in der das Mädchen, Hayley Stark, unweigerlich zum Opfer werden muss – ein erwachsener Mann, der sich mit einem Kind in einem Chatroom verabredet, muss ein Täter sein.
Hayley gibt sich als intelligente, freche Jugendliche, die ein wenig zu klug und neugierig für ihr Alter ist. Der attraktive Mann, der da auftaucht, ordnet sie entsprechend der Erwartungshaltung ein: er meint sie würde Coldplay und John Mayer und Schokolade mögen. Er nimmt sie eher auf ihr eigenes Drängen hin zu sich nach Hause – er ist Fotograf, der hauptsächlich minderjährige Models fotografiert. Gerade an dem Punkt, an dem die Angst des Zusehers um Hayley am größten ist – als sie zwei (von ihr gemixte, denn "Never drink anything you didn't mix yourself") Drinks getrunken hat und durch das hippe Haus spring, unbedingt fotografiert werden will und sich neckisch auszieht – dreht sich alles um.
Jeff fällt betäubt um und erwacht gefesselt in seinem Schreibtischstuhl. Hayley hat sich von dem klugen, netten Mädchen in eine gnadenlos überlegene Rachegöttin verwandelt, und sie hat eine Agenda. An dieser Stelle dreht sich unsere Beurteilung der beiden Hauptfiguren um 180 Grad, was allerdings nicht unbedingt an den Figuren selbst liegt, sondern an der Erwartungshaltung. Das Mädchen muss psychisch gestört sein – ohne Beweise zu haben, wirft sie Jeff vor, pädophil und am Mord eines Mädchens beteiligt gewesen zu sein – bis sie die Beweise, welche den Zusehern zum Glück erspart werden, tatsächlich findet. Ihre Überlegenheit steigt mit jeder Sekunde, ihre eigene Inszenierung einer Bestrafung entgleitet ihr erst am Ende kurz, wird aber sofort wieder unter Kontrolle gebracht. Sie erklärt, dass sie den Mann kastrieren wird, was sie in den schrecklichsten 40 Minuten der Filmgeschichte auch tatsächlich zu tun scheint. Auch wenn es niemals grafisch wird, reicht die Intensität der beiden Schauspieler, den Schmerz fühlbar zu machen.
Ein Punkt des Filmes: man möchte die Augen abwenden, kann aber nicht, wie Alex in Clockwork Orange. Der Zuseher merkt, dass Hayley jedes kleinste Detail geplant hat, dass alles auf diesen einen Moment hinausläuft, in dem sie ihn gänzlich in der Hand hat – töte dich selbst, und niemand wird jemals erfahren, was für ein Mensch du bist – und erst meint, sie werde die Beweise doch nicht vernichten, als er bereits am Seil hängt.
Eine objektive Beurteilung von David Slades Debütfilm fällt wegen der unglaublich dichten Stimmung des Filmes schwer. Die beiden Schauspieler, Patrick Wilson (der Mormone aus Angels in America), vor allem an der die unglaubliche, zum Zeitpunkt des Drehs gerade erst achtzehnjährige Ellen Page leisten 90 Minuten lang etwas, was in der Vergangenheit vergessen wurde, was Joel Schumacher vielleicht mit Phone Booth inszenieren wollte, aber eben am Ego seines Schauspielers gescheitert ist. Sie treten vollständig hinter ihre Charakter zurück – und Hayley bleibt den ganzen Film über undurchschaubar, eine Schauspielerin gespielt von einer Schauspielerin – Jeff, der wie die Zuseher reagiert, kann sie nicht ernstnehmen und bezahlt dafür bitter. Hayley ist ihm verbal, intellektuell und sogar körperlich überlegen (was vor allem beeindruckend ist, da nur 1.57m groß ist). Lediglich in dem Moment, als die Nachbarin, gespielt von Sandra Oh, in das inszenierte Kammerspiel eindringt, gerät die Situation kurz ins Wanken, gelingt dem Zuseher ein Blick hinter die Fassade, denn Jeffs eigener Versuch, Hayleys Verhalten psychologisch zu deuten, muss fehlschlagen. Letztendlich bleibt sie ohne Erklärung – vielleicht ist sie 14, vielleicht auch nicht, wir wissen nicht, warum sie tut, was sie tut, ist sie überhaupt ein Mensch, oder der Zola'sche Geist, der den Täter in den Wahnsinn und letztendlich in die gerechte Strafe treibt. Als mögliche Deutung als female self-empowerment muss sie ja gerade zu Jeffs Alpträumen entsprungen sein. Auch wenn der Zuseher nicht von Anfang an von Jeffs Schuld überzeugt ist, am Ende erweist sich Hayley als Allwissend.
Wenn Ellen Page in einem Interview meint, der Film wäre so faszinierend, weil man ihn nicht kategorisieren kann, hat sie vollkommen recht. Es ist kein richtiger Rachefilm, der Selbstjustiz idealisiert, da dafür Hayleys Hintergrund und Involvierung in den Mordfall nicht ausreichend erklärt wird, und überhaupt gibt der Film gar kein moralisches Urteil über ihr Handeln ab. Es geht auch nicht um Kindesmissbraucht, auch wenn er die Erwartungshaltung, die uns Menschen mit einem bestimmten Aussehen als Täter und Opfer einordnen lässt, zerstört. Dieser Film ist einmalig, unglaublich verunsichernd und tut bis zu dem Moment, als über dem Abspann Elephant Woman von Blonde Redhead ertönt, physisch weh.

2005, Regie: David Slade, mit Patrick Wilson, Ellen Page, Sandra Oh, Odessa Rae, G.J. Echternkamp.

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